ANNA ERTEL

 

Fremdheit, verdoppelt

Kommentar zum Gedicht

 

Ein wahrnehmendes Ich in der Fremde, eine moderne Ich-Instanz, in die neue Welt gereist, mit allen Wahrnehmungsmustern aus der alten Welt im Gepäck, allen jahreszeitlichen Erinnerungen im Körpergedächtnis. Ein mobiles Ich, dem alle vertrauten Zeichen, alles landschaftlich Vertraute abhanden gekommen ist, das sich nicht mehr auskennt in der Natur, die es umgibt. Kein lautloses Schneegeriesel am Weihnachtswintertag, keine Zeichen im Schnee, keine les-und deutbaren Vogelspuren, nicht Wiedererkennbares, nichts Verlässliches mehr: Stattdessen extreme Wetterlagen, Hurrikane & Hitze, kleinere und größere klimatische Katastrophen, die vor allem katastrophische Grenzerfahrungen und Fremdheitserfahrungen für das ihnen ausgelieferte Ich sind -, und mittendrin eine Sprache, die sich gleichzeitig behauptet und ausliefert, eine Sprache, die sich altertümelnd nach ihren Wurzeln zurücksehnt, an ihre Wurzeln gemahnt, und dabei wiederum Fremdheit erzeugt, da der Rückgriff auf das Altvertraute nicht mehr ungebrochen funktioniert: In der uns nicht mehr geläufigen Schreibweise manifestiert sich das Fremde ausgerechnet im Allereigensten, der Muttersprache – Fremdheit, verdoppelt, im Gedicht.

 

in: Zeichen&Wunder, Zeitschrift für Lyrik, Prosa und Essays der Gegenwart, Ausgabe 55, Dezember 2010

 

ANNA ERTEL

geb. 1979 am Bodensee, Studium der Germanistik und Psychologie, Promotion über deutschsprachige Gegenwartslyrik (Körper, Gehirne, Gene. Lyrik und Naturwissenschaft bei Ulrike Draesner und Durs Grünbein, Berlin/New York 2010); lebt und arbeitet in Freiburg im Breisgau.